Die Künstlerin Warja Lavater ist gestorben

„Für so ein Fräulein ist keine Arbeit da“, sagte Armin Meili, der Direktor der Landesausstellung 1939 zur jungen Grafikerin. Trotzdem entwarf Warja Lavater ein Signet, und ihr Ring mit Flügel wurde zum bekanntesten Landi-Kennzeichen. Die Vierundzwanzigjährige hatte kurz zuvor die Renommierten der Gilde überholt: Im Wettbewerb des Schweizerischen Bankvereins hatte sie nicht die nach Programm geforderten Buchstaben benutzt, sondern drei Schlüsselchen verschränkt; sie gehören auch nach sechzig Jahren und nach dem Wechsel des Namens zum Erscheinungsbild der heutigen UBS.

Zeichen anstatt Buchstaben, heitere Weisheit anstatt gezielte Werbung prägen seither das einzigartige Werk von Warja Lavater. Vielleicht hat schon die kleine Warja die Welt als Bildzeichen erlebt. 1913 in Winterthur geboren, sah sie in Moskau – der Vater vertrat dort die Sulzer AG - die Pracht der Kuppeln. Flucht vor der Revolution nach Griechenland, dort „las“ sie, die mangels Gelegenheit nicht zur Schule ging, die Geschichten aus Fresken und Reliefs. Im Gymnasium Winterthur holte das blitzgescheite Kind auf. Die Bildliebe blieb. In der Kunstgewerbeschule Zürich kam die Disziplin der vom Bauhaus geprägten Lehrer hinzu. Nach Studienaufenthalten in Stockholm, Basel und Paris eröffnete Warja Lavater 1937 mit ihrem späteren Mann Gottfried Honegger ein Atelier für angewandte Grafik in Zürich. Bald ziehen die Männer in den Aktivdienst, Warja, voller Mut und Anmut, leitet das Atelier. Sie gestaltet die „Saffa“ mit, hat zwei Töchter, zieht 1958 mit der Familie nach New York.

Was manche Europäer verwirrte, ist ihre Wonne: Die bunte bewegte Welt voller Zeichen, in der China Town sogar jenseits der Sprache, zeigt ihr den Weg zum eigenen Ausdruck. Erzählen will sie, aber nicht wie ihre Mutter, die Schriftstellerin Mary Lavater-Sloman mit Worten, sondern mit Formen und Farben. Fern der Heimat ist ihr erstes Thema – Wilhelm Tell. Ein blauer Punkt der Tell, ein kleiner der Walterli, dazu das Dreieck des Huts auf der Stange, ein kleiderschrankgrosses Rechteck unter dem Dreieck ist Gessler, die Bürger braune Kreise wie frisches Brot. Das Drama rollt über zwanzig gefaltete Blätter, jede Seite eine gültige Komposition. Stellt man den Leporello auf, wird er Skulptur, Kulisse, Objekt, Bild. Spannende Inhalte, erzählt mit strahlend schöner konkreter Kunst: ihrer Erfindung blieb Warja Lavater treu, Leporello um Leporello. Ein Lebenswerk. Ihre Codes für Märchen sind Phantasiehilfen ohnegleichen. Im roten Punkt, im dicken Schwarz, im lichten Gelb können Kinder das Rotkäppchen, den vollgefressenen Wolf, die goldhaarige Prinzessin nach eigenem Gusto „sehen“, ohne Fixierungen auf Klischees. In Frankreich arbeiten Schulen damit. Warja Lavater selbst war eine fabelhafte Erzählerin, mit strahlenden Augen und mit Händen, die tanzten wie Schmetterlinge. Eine Fee. Ein verwunschener Ort war auch ihr Atelier in Zürich: Arbeitstische, Farben, Stifte, Zettelchen, Blumen, Bücher der befreundeten Dichter und Philosophen - Vielfalt für Auge und Geist. Das Wunder: der Zauber ihres Wesens ging ein in die geometrischen Zeichen.

Immer öfter erdachte sie eigene Geschichten. Ihre „Helden“ sind die Unangepassten, Aussenseiter. Sie vereinsamen in der (unserer) Welt der starren Hierarchien, es kommt zum Chaos – und zu neuer heiterer Ordnung. Die Botschaft der Liebenswürdigsten der Subversiven ist – von Tell bis zum Ratio-Kreis des Descartes – brennend aktuell: Misstraut den Zwängen, nehmt die Bedingungen auf Euch, zu denen Freiheit möglich wird. Dazu erschafft sie einen kleinen Vogel mit strahlendem Kreis-Auge: Turdidi singt nicht nach der Väter Weise, sondern erfindet sein eigenes Lied, wird verstossen, kommt in Not und Einsamkeit und gewinnt zum Schluss mit seiner Melodie die jungen Vögel, die nun mit ihm die starren Muster überwinden.

Warja Lavater ist am Donnerstag, 3. Mai gestorben. Turdidi singt ihr Lied weiter.

Annemarie Monteil, Zürcher Tagesanzeiger, Samstag, den 5. Mai 2007